Der letzte Abend mit Colin war wundervoll. Wir haben heiße Schokolade getrunken, Pizza bestellt und ich habe mich breitschlagen lassen mit ihm einen Weihnachtsfilm zu schauen. Natürlich den Grinch. Seine Wahl habe ich mit einem Augenrollen hingenommen. Letztendlich folgte dem Film eine hitzige Diskussion darüber, wie ähnlich ich dem grünen Zottelmann bin.
Sehr ähnlich, wie Colin findet.
Aber wenn dem so ist, dann müsste Weihnachten auch für mich irgendwann mehr sein, als ein verhasster Tag mit miesen Erinnerungen, oder? Wer weiß, vielleicht ist Colin ja meine ganz persönliche Cindy Lou?
Bei der Vorstellung verziehen sich meine Lippen automatisch zu einem Lächeln. Ich ziehe mir die Bettdecke über das Gesicht, um es zu verbergen, obwohl niemand da ist, der es sehen könnte.
Irgendwann bin ich auf seinem Schoß eingeschlafen. Als ich wieder wach wurde, war der zweite Film längst zu Ende. Aber Colin saß einfach da und sah mich an, während seine Finger kleine Kreise über meine Stirn malten. Wenn ich jetzt daran denke, fängt es in meinem Bauch augenblicklich an zu Kribbeln. Gestern Abend jedoch, war ich viel zu schlaftrunken, um aufgeregt zu sein. Mein halb-schlafendes Ich hat ihm sogar einen Kuss auf die Wange gedrückt, bevor es sich ins Bett verabschiedet hat. Nur allzu genau erinnere ich mich daran, wie Colins Augen sich vor Überraschung geweitet haben. So viel Zuneigung habe ich ihm gegenüber noch nie gezeigt. Meist ist er es, der mich umarmt oder auf die Stirn küsst. Ich bin da eher der passive Part. Bis auf gestern. Aber ich war so dankbar für das, was er die letzten Tage für mich getan hat, dass ich einfach nicht anders konnte.
Nervös tigere ich in meiner kleinen 2-Raum-Wohnung hin und her. Noch nie kamen mir die Räume so winzig vor, wie heute. Jeden Augenblick wird mich Colin abholen. Meine Tasche mit den Klamotten und die verpackte Fröbelstern-Girlande stehen bereits im Flur. Beim Blick auf die Tasche dreht mein Magen einen Salto. Es ist eine Sache bei fremden Menschen Weihnachten zu feiern. Eine ganz Andere, dort auch noch zu übernachten. Ich könnte Colin dafür den Hals umdrehen, dass er mir verheimlicht hat, wo seine Eltern wohnen. Nämlich knappe 3 Stunden Autofahrt von uns entfernt. Eine Strecke, die keiner zweimal am Tag fahren möchte. Nur widerwillig habe ich zugestimmt. Und auch nur, weil er mir geschworen hat, sämtliche Antiquariate mit mir abzuklappern, sobald die Regelungen der Pandemie es wieder zulassen.
Es klingelt. Obwohl ich es erwartet habe, zucke ich zusammen. Schnell laufe ich zur Wohnungstür und öffne Colin.
Ein wenig außer Atem kommt er bei mir an.
„Hey“, keucht er und strahlt mich an.
„Hey“, erwidere ich. Für einen Moment stehe ich unschlüssig herum, bis mir wieder einfällt, wieso Colin hier ist. „Ich ziehe mich nur schnell an.“
Während ich mir die senfgelbe Strickmütze aufsetze und in den Mantel schlüpfe, greift Colin nach meinen Sachen.
„Ist das alles?“
Ich nicke, unfähig zu antworten. Meine Kehle fühlt sich plötzlich furchtbar eng an. Was mache ich hier? Wem will ich hier etwas beweisen? Mir? Colin? Mit einmal fühlt sich das alles nicht mehr nach Cindy Lou an. Weihnachten ist mein persönliches Fest der Einsamkeit. Warum sollte ein Besuch bei Colins Eltern daran etwas ändern? Was ist, wenn sie mich nicht leiden können und wir uns den ganzen Abend nur anschweigen? Angst krallt sich in mein Herz und lässt meine Finger zittern, als ich den Schlüssel vom Haken nehme. Aber für einen Rückzieher ist es jetzt zu spät. Das kann ich Colin auf keinen Fall antun. Die Freude und Wärme in seinem Blick bringt mich schließlich dazu, die Tür hinter mir zuzuziehen. Auch wenn mir alles andere als wohl dabei zumute ist.
Die Autofahrt vergeht für meinen Geschmack viel zu schnell. Ruckzuck kommen wir an. Von Colin weiß ich, dass seine Eltern ein eigenes Haus mit Garten am Rande der Stadt besitzen. Ich betrachte die vorbeiziehenden Häuserfronten und stelle mir vor, wie es wäre hier zu wohnen. Alles wirkt ruhig, gepflegt und irgendwie ländlich obwohl die Autobahn keine 10 Minuten Fahrt entfernt liegt.
„Bist du aufgeregt?“
Ich drehe den Kopf, damit ich Colin ansehen kann. Seine Konzentration liegt auf der Straße vor uns. Nur kurz wirft er mir sein typisches schiefes Grinsen zu.
Missmutig brumme ich, weil ich die Frage für unnötig halte. Natürlich bin ich aufgeregt. Und wie. Diese Frage ist genauso blöd, wie: „Wie geht es dir?“
Mit einmal spüre ich Colins warme Hand auf meinem Oberschenkel. Augenblicklich erstarre ich zur Salzsäule. Ich trage lediglich Strumpfhosen unter dem tannengrünen Cordrock. Weiß er, was er damit bei mir auslöst? Vermutlich nicht. Denn jetzt beginnt er auch noch seinen Daumen streichelnd auf und ab zu bewegen. Gänsehaut überzieht meine Haut. Meine Atmung kommt ins Stocken und mit einmal weiß ich nicht mehr wohin mit meinen Händen.
„Keine Sorge. Meine Eltern werden dich mögen. Wer kann schon von sich behaupten zu Weihnachten einen eigenen Grinch zu Hause zu haben.“ Er grinst mich erneut von der Seite an. Mein Lächeln fällt um einiges verkrampfter aus. Selbst auf seinen Grinch-Witz kann ich nichts antworten.
Ich bin heilfroh und gleichzeitig unendlich enttäuscht, als Colin seine Hand zurückzieht. Das alles hier ist die mieseste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Abgesehen vom Kauf der Einhornjogginghose vielleicht.
Es dauert keine fünf Minuten, da erreichen wir das Haus von Colins Eltern. Es ist hübsch. Das dunkle Rot wirkt ungewöhnlich, aber in Kombination mit den weißen Fensterläden, sieht es aus, wie das Haus vom Weihnachtsmann persönlich. Automatisch muss ich schmunzeln, denn es passt so perfekt in Colins Leben.
Er parkt den Wagen in der Einfahrt. Inzwischen rast mein Herz nicht mehr nur, wegen dem Gefühl von Colins Hand auf meinem Bein. Ich kann die Hitze, die von ihm ausging, immer noch deutlich spüren.
Als ich aussteige, lasse ich den Blick schweifen. Alles wirkt geschmackvoll hergerichtet, mit viel Liebe fürs Detail. Altes Schwemmholz trennt die verschiedenen Pflanzen im Vorgarten. Tontöpfe und die bepflanzte gusseiserne Wanne geben dem ganzen einen rustikalen Charme. Es gefällt mir.
Colin nimmt das Gepäck aus dem Kofferraum, dann gehen wir gemeinsam zum Eingang. Das Haus ist ziemlich groß und reicht über drei Etagen. Früher haben Colins Großeltern im Erdgeschoss gewohnt. Aber seit sein Großvater vor zwei Jahren verstorben ist, und seine Oma ins Pflegeheim kam, steht die Wohnung leer. Ich fühle mich unwohl, bei dem Gedanken, dort zu übernachten.
Als Colin die Haustür aufschließt, bleibt mein Blick an etwas kleben. Innerlich bete ich dafür, dass Colin es nicht sieht. Und selbst wenn er es sieht, ihm solche Bräuche nicht wichtig sind. Aber ich habe die Rechnung ohne Colin gemacht. Dem Menschen, der Weihnachten mehr liebt, als irgendjemand sonst.
„Ich schätze, wir müssen uns jetzt küssen.“
Colin deutet auf den Mistelzweig im Türrahmen und grinst.
„Was?“ Ich klinge panisch. Aber nicht, weil ich diesen Kuss nicht will, sondern weil mein Herz bei dem Gedanken daran einen aufgeregten Tanz vollführt.
„Ist die Vorstellung so erschreckend?“ Er schnaubt belustigt, aber ich kann sehen, wie sich seine Schultern anspannen und das Lächeln nur seinen Mund, nicht aber seine Augen erreicht.
„N-nein“, stottere ich. „Ich bin nur …“ Die Worte bleiben mir im Munde stecken, als Colin ganz dicht vor mich tritt. Ich starre auf seine breite Brust. Sofort nehme ich den Geruch seines Aftershaves wahr. Mein ganzer Körper beginnt zu prickeln. Ich bin wie erstarrt, bis seine Finger sich unter mein Kinn legen und es sanft nach oben drücken, sodass ich ihn ansehen muss.
„Wenn du das hier nicht möchtest, dann ist das vollkommen okay.“
Als ich nicht reagiere, wandert sein Blick zu meinem Mund. In seinen Augen liegt ein Ausdruck, den ich, würde ich es nicht besser wissen, als beinahe hungrig beschreiben würde.
Wollte er diesen Kuss denn? Das haben wir noch gar nicht geklärt.
Doch bevor ich auch nur ein Ton von mir geben kann, spüre ich seine Lippen auf meinen. Ganz zart. Beinahe vorsichtig, als ob er mir den Raum lassen wollte, selbst zu entscheiden, wie weit dieser Kuss führt. Sein Mund ist warm und weicher, als ich erwartet habe. Es fühlt sich gut an ihn zu küssen. Viel zu gut. Unbewusst schließen sich meine Augen und wir vertiefen den Kuss. Meine Knie werden weich. Halt suchend kralle ich mich an Colins Pullover fest, der es als Einladung sieht, mich eng an sich zu pressen. Hitze breitet sich in mir aus. Alles in mir schreit nach mehr. Mehr von diesem Kuss. Mehr von diesem Mann. Meine Hände lösen sich aus ihrer verkrampften Haltung. Wie von selbst gehen sie auf Wanderschaft. Es ist wie ein Rausch, Colin so nahe zu sein. Ein gefährlicher Rausch. Einer von der Sorte, die einen abhängig machen kann.
Meine Finger streifen den schmalen Streifen Haut, zwischen Colins Pullover und seinem Hosenbund.
„Ava“, keucht er. Allein, wie er meinen Namen sagt, jagt mir ein Schauer über den Rücken. Rau und voller Verlangen. Am liebsten würde ich ihm den Pullover vom Leib reißen und …
„Colin? Wo bleibt ihr denn?“, schallt es durch das Treppenhaus.
Als hätte jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über mir ausgekippt, komme ich zur Besinnung. Was verdammt nochmal tue ich hier? Ich knutsche mit Colin im Hausflur seiner Eltern und war kurz davor gewesen, noch weiter zu gehen. Erschrocken über mich selbst, drücke ich Colin von mir weg und weiche einen Schritt zurück. Mit Blick in sein Gesicht wird mir jedoch bewusst, dass das ein Fehler war. Es ist nur der Bruchteil einer Sekunde, doch ich kann die Enttäuschung und Verwirrung über meine Zurückweisung in seinem Gesicht deutlich sehen, bevor er sein gewohntes Lächeln aufsetzt.
„Wir kommen“, antwortet er seiner Mutter, wobei seine Stimme ein wenig rauer, als gewöhnlich klingt.
Ich will etwas sagen. Mich entschuldigen. Aber er schüttelt nur den Kopf. „Alles gut, Ava.“ Er streicht mir eine Strähne hinters Ohr, wobei seine Finger meine Haut streifen. Die Stelle fängt sofort an zu Kribbeln. „Lass uns hochgehen.“
ENDE TEIL 5
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