„Ich verschwinde mal eben“, meint er und deutet in Richtung Badezimmer.
„Na klar“, erwidere ich atemlos. Für den winzigen Moment eines Wimpernschlages hatte ich gedacht, oder gehofft? Wie auch immer. Ich hatte gedacht, er würde … Ja, was? Mich berühren? Mich küssen?
Beschämt stoße ich die Luft aus und vergrabe mein Gesicht in den Händen, als Colin durch die Tür verschwunden ist. Was ist denn heute nur los mit mir?
Es ist eindeutig nicht mein Tag. Erst das Chaos auf Arbeit, wo mein Chef mich unvermittelt wegen des anstehenden Lockdowns nach Hause geschickt hat, obwohl ich auf Arbeit nicht mit anderen Kollegen in Kontakt komme, wenn ich es nicht explizit wollte. Aber er ist da streng. Da half alles Bitten und Jammern nichts, dass ich zu Hause nur allein rumsitzen würde. Dann der beinahe Unfall mit der Straßenbahn. Ich habe keine Ahnung, wo meine Gedanken waren, als ich über die Straße lief, vermutlich bei der einsamen Zeit, die mir bevorstand. Das laute Klingeln und die Rufe hatten mich zum Glück schnell in die Realität zurückgeholt. Colin war der einzige Lichtblick an diesem beschissenen Tag. Aber seitdem er mich zu Weihnachten eingeladen hat, spielen meine Gefühle verrückt. Als ob diese Einladung ein Freifahrtsschein für sie wären, um durchzudrehen. Dabei will er nur, dass ich zu Weihnachten nicht allein zu Hause sitze. Es heißt sicher nicht: „Ava ich steh auf dich und will Weihnachten mit dir verbringen.“ Aber aus irgendeinem Grund sind meine Gefühle da anderer Meinung.
Ein letztes Mal reibe ich mir über das Gesicht. So fest, dass es beinahe weh tut. Irgendwie muss ich mich ja wieder zur Besinnung rufen. Schließlich erhebe ich mich von meinem Stuhl, auf dem ich seit einigen Stunden sitze, Papier zurechtschneide und falte. Ich strecke die Beine. Es tut gut, sie zu bewegen. Mit Blick auf Colins und meine leere Teetasse beschließe ich uns Nachschub zu besorgen. Wir würden heute zwar nicht fertig werden, aber der Tee würde meine Nerven beruhigen. Hoffe ich zumindest.
Während ich den Wasserkocher auffülle, höre ich die Badezimmertür. Kurz darauf steht Colin in der Küche. Allein seine Anwesenheit reicht aus, dass mir meine ohnehin winzige Küche noch kleiner vorkommt. Er füllt den Eingang komplett aus. Wenn ich hinauswollte, müsste ich mich dicht an ihm vorbeipressen. Bei der Vorstellung muss ich unwillkürlich schlucken.
„Kann ich dir helfen? Warte! Ich hole den Tee raus.“ Er schaut sich in der Küche um, bis er den richtigen Schrank entdeckt. Routiniert studiert er die Teepackungen, als würden wir regelmäßig bei mir Tee trinken. Natürlich trafen wir uns hin und wieder auch bei mir zu Hause. Aber meistens gingen wir spazieren, tranken irgendwo einen Kaffee zusammen oder verbrachten den Nachmittag mit Antiquariats-Hopping, wie Colin unser Interesse an alten Bücherläden beschrieb. Durch Corona haben sich diese Aktivitäten Stück für Stück verflüchtigt. Wir sind ohne großes Gerede dazu übergegangen uns gegenseitig zu besuchen. Wobei wir meistens bei Colin zu Hause saßen. Seine Wohnung ist deutlich größer als meine. Und weniger intim, wie mir bewusst wird, als Colins Schulter meine streift.
„Orange-Ingwer oder Pflaume-Zimt?“, fragt er und ich muss den Kopf heben, um ihn anzusehen.
„Pflaume-Zimt, bitte.“ Meine Stimme klingt sicherer, als ich mich gerade fühle.
Colin reicht mir zwei Päckchen und ich gieße die Tassen mit kochendem Wasser auf. Dabei bin ich mir Colins Nähe überdeutlich bewusst. Sollte der Tee nicht meine Nerven beruhigen?
Innerlich seufze ich verzweifelt.
„Warte, ich trage die Tassen.“ Colin greift sich die Becher und geht voraus. Sofort fehlt mir seine Nähe. Ergeben schließe ich die Augen. Was zur Hölle? Es wird Zeit, dass dieser Abend ein Ende findet.
Es ist schon spät als Colin sich verabschiedet. Wir haben mehr Sterne geschafft, als ich geglaubt habe. Die Girlande, die wir daraus basteln wollen, ist damit zur Hälfte fertig. Allerdings kann ich meine Augen auch kaum noch offenhalten. Immerzu muss ich gähnen.
„Ab ins Bett mir dir“, meint Colin, während er sich den Schal um den Hals wickelt.
„Ich habe morgen frei“, winke ich seine Sorge ab. Mir wird wieder bewusst, dass ich bis Weihnachten allein in meiner Wohnung festsitze. Ein ungutes Gefühl mischt sich unter all die glücklichen Hormone, die mich diesen Abend ausgefüllt haben.
Colin hebt überrascht die Augenbrauen. „Frei? Aber der Lockdown gilt doch erst ab Mittwoch.“
Ich hebe missmutig die Hände. „Mein Chef ist halt übervorsichtig. Dieses Jahr stehen keine großen Auktionen mehr an. Wenn dann nächstes Jahr, und aufgrund der Pandemie läuft sowieso alles nur noch online ab. Das bedarf viel weniger Vorbereitung, weshalb er uns alle vorzeitig nach Hause schickt. Lieber gesund ins neue Jahr starten, meinte er.“ Ich zucke hilflos mit den Schultern. „Ich werde also die Tage bis Weihnachten hier versauern. Wahrscheinlich werde ich ohne Ende Fröbelsterne basteln. Die Girlande können deine Eltern sich dann dreimal ums Haus wickeln.“
Colin schüttelt belustigt den Kopf und schließt den Reißverschluss seines Parkas. Dann sieht er mich unvermittelt ernst an. „Keine Sorge! Ich lasse dich hier nicht versauern.“ Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn, dann hebt er zum Abschied die Hand und weg ist er.
Alles was er zurücklässt, ist ein Versprechen und mein verräterisch klopfendes Herz.
Am nächsten Morgen schlage ich mit voller Wucht auf den Wecker, den ich vergessen habe abzustellen. Er hat mich aus einem mehr oder weniger schönen Traum gerissen, in dem Colin keine unbedeutende Rolle gespielt hat. Ich drehe mich auf die andere Seite, aber es ist zu spät. Ich bin wach und bei der Erinnerung an meinem Traum vergrabe ich beschämt das Gesicht im Kissen.
Frustriert stoße ich die Luft aus und rolle mich auf den Rücken, den Blick starr an die Decke gerichtet. Der erste Tag von vielen einsamen und ereignislosen Tagen beginnt. Dieser Gedanke zermürbt mich so sehr, dass ich mir die Decke über den Kopf ziehe. In der kindischen Hoffnung, dass, wenn ich sie wieder herunterziehe, alles vorbei ist. Natürlich ist das nicht der Fall, also hieve ich mich hoch und tapse in Richtung Badezimmer.
Auf dem Weg dorthin komme ich an dem hohen Flurspiegel vorbei. Ein kurzer Blick hinein lässt mich die Augen verdrehen. Meine Haare sehen aus, als hätten gleich drei Vögel darin ihr Nest gebaut. Aufgrund ihrer Länge binde ich sie mir jeden Abend als Knoten nach oben. Meist mit Erfolg, nur diese Nacht muss sich der Haargummi gelöst haben. Als Ergebnis stehen mir die rabenschwarzen Haare jetzt sprichwörtlich zu Berge. Ich zupfe daran herum, ohne großen Erfolg. Wenigstens sehe ich erholt aus, stelle ich mit einem Blick in mein Gesicht fest. Trotz der kurzen Nacht. Meine grünen Augen sehen mir dennoch fragend entgegen. Frei nach dem Motto: „Was willst du um diese Uhrzeit hier?“
Das wüsste ich auch gern. Seufzend gehe ich ins Bad und will mir gerade das große Schlafshirt über den Kopf ziehen, um unter die Dusche zu steigen, als es klingelt. Verdutzt halte ich inne. Mein Blick huscht zur Uhr auf dem schmalen Badregal. 6:17 Uhr. Wer zur Hölle klingelt um diese Uhrzeit an meiner Tür?
Ich zerre das Shirt zurück, werfe mir die knielange Strickjacke über, die im Bad hängt und gehe zur Tür.
„Hallo?“, frage ich skeptisch in den Hörer der Freisprechanlage.
„Guten Morgen, Sonnenschein. Frühstückslieferservice!“
Mein Mund klappt auf. Colin steht vor der Tür. Panisch sehe ich an mir herunter. Das Shirt reicht mir gerade mal bis über den Po.
„Okay?“, quietsche ich und klinge mehr nach einer Gegenfrage, als einer Antwort. Mein Kopf ruckt von links nach rechts, bis ich mich wieder in dem Spiegel sehe und schlucke. So kann ich Colin unmöglich empfangen.
„Lässt du mich rein?“, hakt er nach.
„Äh, ich bin noch im Schlafanzug?“, versuche ich, ihn abzuwimmeln.
„Macht nichts. Ich habe sowieso damit gerechnet, dich wach klingeln zu müssen.“
„Aha“, fällt meine reichlich durchdachte Antwort aus.
„Also, was ist? Der Kaffee wird kalt!“ Belustigung schwingt in seiner Stimme mit. Vermutlich stellt er sich gerade vor, wie ich krampfhaft versuche, der Situation zu entkommen. Womit er verdammt recht hat. Auch wenn ich mich über Colins Besuch freue, wäre ich lieber darauf vorbereitet gewesen.
Ergeben schließe ich kurz die Augen, bevor ich den Öffner drücke.
„Danke“, trällert es mir noch entgegen, dann lege ich den Hörer auf.
So schnell ich kann, sprinte ich zurück ins Schlafzimmer. Reiße meine Schranktüren auf und krame Unterwäsche und die erstbeste Jogginghose heraus, die mir in die Hände fällt. Hastig schlüpfe ich hinein, nur um mir im selben Tempo mein Schlafshirt über den Kopf zu zerren.
Es klopft an der Wohnungstür. Ich erstarre. „5 Minuten“, brülle ich der geschlossenen Tür halbnackt entgegen. Schnell ziehe ich mich fertig an, um Richtung Badezimmer zu rennen. Wobei meine Schritte über den Flur trampeln, als wäre eine ganze Horde Elefanten unterwegs. Auf halben Weg öffne ich dir Tür, nur um im selben Augenblick, in dem Colin die Wohnung betritt hinter der Badtür zu verschwinden.
„Bin gleich da“, rufe ich.
„Ich deck schon mal den Tisch.“
Mein Herz rast. Meine vor Schreck geweiteten Augen starren mir aus dem Spiegel entgegen.
Colin ist hier.
Ich zwinge mich ein paar Mal tief durchzuatmen, bevor ich nach der Haarbürste greife und dem dreifachen Vogelnest an den Kragen gehe.
ENDE TEIL 3
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