13 – Isa
Seine Augen haben diesen unfassbar warmen Karamellton angenommen. Ganz anders, als vorhin in der Küche, wo sie nach 90 % Bitterschokolade aussahen und mich in meinen Grundfesten erschüttert haben.
Er klingt überhaupt nicht sauer, sondern eher besorgt. Irgendwie ist das noch viel schlimmer. Gänsehaut überzieht meine Arme, weil seine Hände mich berühren. Ich kann mich nicht bewegen, geschweige denn atmen, wenn er so nahe vor mir steht.
Mein Gehirn arbeitet fieberhaft an einer Antwort, die ich ihm geben könnte, ohne mein Herz sezieren zu müssen. Das funktioniert allerdings vollkommen in die andere Richtung. Es trommelt in meiner Brust wie ein Schlagzeugorchester und führt mir, wie die letzten Stunden so oft, meine miese Scharade vor Augen. Lügen, Lügen, Lügen. Wie ich es hasse.
Aber wenn eine Lüge zur Wahrheit wird, ist es dann überhaupt noch eine Lüge?
Ach Isa, manche Dinge kann man einfach nicht schön reden.
Ich hole Luft. Sein unverwechselbarer Duft nach Deo und frischer Wäsche dringt mir in die Nase, vernebelt mein Gehirn und lässt die Worte, die ich mir mühsam zurechtgelegt habe im Nirwana meiner Gedanken verschwinden.
Reiß dich zusammen, Isa!
Meine Gefühle schlagen Purzelbaum, aber irgendwie schaffe ich es, dass ich ihm endlich antworte. »Ich wusste nicht, wie ich dir die Sache mit Lisa erklären sollte. Ich … ich wollte nicht, dass du sauer auf mich bist. Lisa und du … naja ….« Die Worte stolpern mir über die Lippen. Sie fühlen sich an wie Verrat und schneiden mit jeder weiteren Silbe große Kerben in mein Gewissen. Nie wieder. Nie wieder kann ich Erik ohne Scham in die Augen sehen. Erneut wende ich den Blick ab. Am liebsten würde ich heulen und toben, weil er so fürsorglich zu mir ist und ich es gar nicht verdient habe.
Die Situation überfordert mich. Warum verhält er sich so? Gestern Abend hat er mich noch angefahren und in der Küche sitzen lassen. Und jetzt?
Er streicht mir eine Locke hinters Ohr, die sich in mein Sichtfeld gemogelt hat. Seiner Berührung folgt ein Schauer, der mir wohlig den Rücken hinunter rinnt.
»Du musst dich nicht entschuldigen. Eigentlich ist das alles meine Schuld.«
Ich erstarre.
Was sagt er da?
»Hätte ich dich gestern Abend ausreden lassen, dann hättest du nicht lügen und Tom hätte sich keine Sorgen machen müssen. Es tut mir leid, Isa. Ich verspreche dir, dass ich dir jetzt immer genau zuhören werde, okay?«
Verdutzt sehe ich ihn an.
Er denkt, es ist seine Schuld?
»Was?«
Als Erik antwortet merke ich, das er meine Frage völlig falsch verstanden hat. »Tom hat sich gewundert, das du nicht antwortest und war deshalb etwas unruhig. Du kennst ihn ja. Nach außen tut er immer total großspurig, aber wenn es um seine geliebte Schwester geht … naja.« Erik zuckt mit den Schultern und grinst.
Es stimmt schon, dass mein Bruder einen kleinen Schwesternkomplex hat. Egal wie oft wir uns auch streiten oder blöde Sprüche klopfen. Wenn es darauf ankommt, würde er für mich durch die Hölle gehen. Andersherum wäre es nicht anders. Tom könnte so viel Schwachsinn reden, wie nie und trotzdem hätte ich ihn nicht weniger lieb. Wir ergänzen uns einfach. Es wäre furchtbar einsam ohne ihn. Ich muss unwillkürlich lächeln, weil Tom das alles bestimmt furchtbar schmalzig finden würde.
Niemand sagt etwas. Ich zupfe an meinem Poncho herum. Keine Ahnung, was ich auf Eriks Entschuldigung erwidern soll. Der ganze Abend hat sich in eine Richtung entwickelt, mit der ich niemals gerechnet hätte. Alles ist absolut anders gelaufen. In meiner Vorstellung liege ich jetzt tieftraurig im Zimmer, weil alle sauer auf mich sind. Die Realität sieht jedoch vor, dass Erik und Tom besorgt waren und ersterer sich eben bei mir für MEINEN Fehler entschuldigt hat.
Wie irre ist das denn? Wann klingelt der Wecker, um mich aus diesem Traum zu wecken?
Hinzukommt, dass der Typ, über den ich mir seit Wochen den Kopf zerbreche, direkt vor mir steht. Und zwar so dicht, dass ich mich ohne weiteres an seiner Brust lehnen könnte.
Mir wird heiß bei dem Gedanken. Hoffentlich fällt es Erik nicht auf, doch der scheint von meinen Haaren abgelenkt zu sein. Immer wieder zwirbelt er sie um seine Finger. Ein leichtes Kribbeln überzieht meine Kopfhaut.
Warum macht er das?
Das alles ist so verrückt. Als ob ich ein Paralleluniversum eingetaucht wäre, ohne es zu merken.
Wir haben jetzt schon seit mehreren Minuten nichts gesagt. Ich fühle mich unruhig. In meinem Kopf kreisen die Vorkommnisse der letzten Tage. Erneut sehe ich zu Erik hoch. Ich muss einfach wissen, was er für ein Gesicht macht, was er denkt und wieso wir noch hier stehen, obwohl eigentlich alles gesagt ist.
Unsere Blicke treffen sich. In seinen Augen toben die verschiedensten Gefühle. Er lächelt, aber es wirkt irgendwie traurig oder verzweifelt?
Ich kann es nicht recht deuten, denn wir sind uns plötzlich so nahe, dass ich glaube, jeden Moment an einem Herzinfarkt zu verenden.
»Erik?«, flüstere ich unsicher. Er sieht mich an und seine Augen gleiten beinahe hungrig über mein Gesicht. Keine Antwort.
Will er mich etwa küssen?
Die Vorstellung lässt meine Hände ganz schwitzig werden und das Blut in meinen Adern beginnt zu kochen. Ich bin wahnsinnig aufgeregt. Meine Knie zittern und innerlich renne ich schreiend im Kreis, um die Spannung unter der ich gerade stehe irgendwie abzubauen.
Ich kann den Blick nicht von Erik abwenden. Sein Gesicht ist jetzt so nahe, das sich unsere Nasenspitzen beinahe berühren. Sein warmer Atem trifft meine Haut. Alles steht unter Strom. Die kleine Narbe an seiner Lippe sieht aus wie ein Angelhaken, das ist mir vorher nie aufgefallen.
Oh Gott, er ist so …
Mein Gehirn zieht blank und ich kann an nichts anderes mehr denken, als das Erik mich jetzt küssen wird.
Mich.
Isa.
»Alles gut bei euch?«
Toms Stimmer zerrt mich schmerzhaft aus meinem Paralleluniversum zurück in das hier und jetzt. Auf einmal bin ich mir jeder seltsamen Regung meines Körpers überdimensional bewusst. Meine Brust hebt und senkt sich heftig, mein Herz rast, die Hände halten das Handy und den Poncho im eisernen Klammergriff und Erik steht viel … VIEL zu dicht bei mir.
Tom kommt um die Ecke und wir zucken auseinander, als ob wir bei etwas Verbotenem erwischt worden wären.
»Klar«, antwortet Erik und reibt sich betont lässig durch die Haare. Sein Gesicht sagt jedoch etwas anderes. Meines mit Sicherheit auch.
Auf einmal wird mir die ganze Tragweite der Situation bewusst.
Mein Bruder hätte mich beinahe beim Rumknutschen mit seinem besten Freund erwischt.
Bevor ich wie eines der Mädchen aus diesen Teenie-Serien hysterisch anfange zu schreien oder gar in Tränen ausbreche, beschließe ich die Flucht zu ergreifen.
»Ich gehe ins Bett«, nuschel ich und fliehe, ohne eine Antwort der beiden abzuwarten.
Etwas verpasst? Kein Problem, hier kommst du zu den vorherigen Kapiteln:
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Ich wusste es! ich wusste, dass Tom dazwischenfunken würde! Leider hatte ich recht … Aber hoffentlich wird den beiden jetzt dadurch klar, dass die Anziehung nicht nur einseitig ist. Das ist so schwer mit anzusehen ^^
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Ich weiß. ^^ Aber ein bisschen Nervenkitzel kann nie schaden.
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