Der Schritt nach vorn | WritingFriday

Gwenny hatte nun endlich begriffen, dass sie weggehen musste. Es hielt sie nichts mehr in der Zweiraumwohnung, mit den dreckigen Fenstern und dem Freund, der schon viel zu lange nichts mehr von ihr wissen wollte. Warum hatte sie sich das überhaupt solange angetan?

Weil sie ihn liebte. Aber stimmte das wirklich?

Missmutig legte sie ihre letzten Sachen in die abgenutzte Reisetasche. Aus dem Nachbarzimmer erklang der Fernseher. Es lief Fußball und der Moderator regte sich gerade schrecklich über eine ungenutzte Chance des heimischen Teams auf.

Gwenny seufzte. In ihr klaffte ein Abgrund, den sie nicht zu überschreiten wagte. Auf der einen Seite stand ihr bisheriges Leben. Kindergärtnerin, 29 Jahre und seit 8 Jahren mit David liiert. Einem Mann, der ihr gestanden hatte, das er bereits seit Monaten mit Sylvia, ihrer besten Freundin, eine Affäre hatte. Auf der anderen Seite blickte ihr eine großes Schild entgegen, auf dem in fetten Buchstaben England drauf stand. Ein Jobangebot, das ihre Eltern mindestens einmal pro Jahr aussprachen. Sie wollten sie so gern bei sich wissen.

Gwenny hatte diese Möglichkeit nie in Erwägung gezogen. Schließlich war sie in einer glücklichen Beziehung gewesen. Gewesen…

Nur mühsam hielt Gwenny die Tränen zurück. Warum musste David ausgerechnet mit Sylvia ins Bett steigen? Wann war das überhaupt passiert? Und warum hatte sie nichts bemerkt? Sie musste wirklich blind gewesen sein. Oder hatte sie es nicht merken wollen?

Das Ratschen des Reißverschlusses übertönte für einen Moment den Torjubel von nebenan. All die Fragen brachten sie nicht weiter. Der Schmerz würde trotzdem bleiben. Sylvia hatte ihr kaum in die Augen blicken können, als Gwenny sie darauf angesprochen hatte.

Es war alles kaputt. Von einem Tag auf den anderen war ihr Leben zu einem Scherbenhaufen zusammengesackt. Nichts als Splitter, die ihr schmerzhaft ins Herz stachen. Sie konnte nicht länger daran festhalten. Welchen Sinn hatte es, sich diesem Elend Tag für Tag zu stellen, wenn ihr die Flucht nach vorn so leicht gemacht wurde.

Ein leises Quietschen erklang, als Gwenny die Tür aufdrückte. Die Rollos im Wohnzimmer waren heruntergelassen, um die heiße Sommersonne auszusperren. Ein verblühtes Alpenveilchen zierte eines der Fensterbretter. Die Wohnung war ihr noch nie so trostlos vorgekommen, wie heute. Besonders der Mann in dem abgewetzten Sessel ließ ihr Herz schwer werden.

„Fertig?“, fragte er, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen.

Gwenny schluckte. Ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an.

Als sie nicht antwortete, hob er den Blick. Blaue Augen sahen sie an, doch in ihnen lag nicht mehr die Wärme von einst. Stattdessen blitzte ihr erschreckende Gelassenheit entgegen. Wann war das passiert? Wie hatte ihr entgehen können, wie lieblos sein Blick geworden war?

„Und?“, hakte er nach.

Gwenny nickte. Zum Reden fehlte ihr die Kraft. Die benötigte sie, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Wenn sie jetzt heulte, gab sie sich endgültig die Blöße. Dabei hatte sie sich doch alle Mühe gegeben, um möglichst gelassen zu wirken, nur um dann im Auto still und heimlich zusammenbrechen zu können.

„Okay. Den Schlüssel kannst du auf die Kommode im Flur legen“, sagte David. „Einen guten Flug und sag deinen Eltern liebe Grüße.“

Damit war ihr Gespräch beendet und seine Aufmerksamkeit galt wieder dem Spiel im Fernseher.

Sie biss sich auf die Unterlippe, aber die Träne die nun ihre Wange hinunter rollte hatte sie nicht verhindern können. Das war es also. 8 Jahre Beziehung und sie bekam nicht einmal eine Umarmung zum Abschied.

Als Gwenny die Tür hinter sich ins Schloss zog, fühlte sich das Klicken des Riegels, wie ein Schlag ins Gesicht an. Sie stand wie gelähmt vor der geschlossenen Wohnungstür. Mit Sicherheit würde Sylvia nachher vorbeikommen. David würde ihr Gwennys Schlüssel geben und damit war ihre Zeit mit David endgültig vorbei. All die ausgetauschten Zärtlichkeiten gehörten dann der Vergangenheit an. Für immer.

Das Vibrieren ihres Handys holte sie aus den dunklen Gedanken.
Eine SMS von ihrer Mutter.

Guten Flug, mein Schatz. Wir freuen uns auf Dich! <3

Gwenny schniefte. Es war nicht so, dass sie nicht mehr geliebt wurde. Aber es blieben nun einmal nicht alle Menschen für immer, und für David und sie, war es Zeit Lebewohl zu sagen.

Mit tränenverschleiertem Blick steckte sie das Handy weg und schob den Gurt der Reisetasche auf ihrer Schulter zurecht. Es hatte keinen Sinn sich an der Vergangenheit festzukrallen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, schritt sie ihrem neuen Leben entgegen.

Gwenny, 29 Jahre alt, Zukunft unbekannt, aber mit Sicherheit besser, als jetzt.

 

Zeilentrenner neu

Wenn ihr selbst gerne schreibt, kennt ihr bestimmt diese Momente, in denen einfach alles läuft. Da ist diese Idee, der Laptop steht aufgeklappt vor euch und die Buchstaben tippen sich beinahe von allein. Genau so erging es mir bei diesem Text. Ich habe keine Ahnung ob er gut oder schlecht ist, aber es fühlte sich verdammt gut an ihn zu schreiben, auch wenn der Inhalt eher bitter ist. Aber ich bin ein Mensch mit Hoffnung im Herzen und deshalb gibt es auch hier diesen klitzekleinen Funken am Ende der Geschichte. Ich wünsche Gwenny in England jedenfalls alles Gute und hoffe, euch hat die Story gefallen.

Der #WritingFriday ist eine Aktion von Elizzy, readbooksandfallinlove. Schaut vorbei und macht mit.

Weitere tolle Beiträge findet ihr bei:

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16 Gedanken zu “Der Schritt nach vorn | WritingFriday

    1. Hey Laura,

      haha, danke dir. Es freut mich sehr, wenn dir mein Text gefällt. Aktuell ist es leider nur dieser Abschnitt. Aber wer weiß, vielleicht entsteht daraus irgendwann mal eine ganze Geschichte. ;-)

      Liebe Grüße
      Ella <3

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  1. Liebe Ella,

    die Geschichte hat mich sehr angesprochen, weil die Ambivalenz von Gwennys Gefühle deutlich wird, schon der Anfang ist stark, als ihr Ex-Freund auf die Ebene des dreckigen Fensters gestellt wird.

    Eine kleine Anregung: Meiner Meinung nach würde die Geschichte spannender, wenn sie an bestimmten Stellen dem Prinzip „don’t tell, show“ folgen würde, zum Beispiel die Passage „Es war alles kaputt. Von einem Tag auf den anderen war ihr Leben zu einem Scherbenhaufen zusammengesackt.“ ist eine Kommentierung, die eigentlich bereits durch das bisher Erzählte deutlich wurde, nämlich das Kofferpacken uvm. .

    Ansonsten eine schöne Aufbruch-Geschichte :) .

    Viele Grüße
    Sebastian

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  2. Hallo Ella,

    deine Geschichte ist sehr bewegend!

    Und, obwohl die Geschichte ja nicht lang ist, sind die Protagonisten gut charakterisiert. Gwenny selbst (das arme Ding, aber sie nimmt ihr Leben jetzt in die Hand), dann David (wie gemein und charakterschwach, sie so lieblos zu verabschieden), Gwennys Eltern… Ich wünsch Gwenny alles Gute!

    Ich hab ja letzte Woche eine ähnliche Geschichte über Gwenny geschrieben, auch sie hat ihren Mann verlassen. Mein heutiger Beitrag ist hier: DAS BUCH, ich hab mich der Schreibaufgabe mit dem sprechenden Buch gewidmet.

    Liebe Grüße
    Daniela

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    1. Liebe Daniela,

      vielen Dank für deine Worte. Ich freue mich, das dir meine Geschichte gefällt. :-) Hoffentlich wird Gwenny in England glücklich, wir drücken ihr die Daumen. ;-)

      Liebste Grüße
      Ella <3

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  3. Hey Ella,

    kaum angefangen zu lesen und schon bin ich durch, so schön flüssig liest sich deine Geschichte von Gwenny. Wundervoll! Ja, manchmal ist es besser die eine Tür zu schließ und durch eine neu geöffnete zu gehen. Das Ganze klingt nach einen schönen Einstieg in ein Buch. Vielleicht machst du weiter. :-)

    Ich habe mich heute mit dem Smartphone, Internet & Co. auseinandergesetzt. HIER findest du meinen Beitrag.

    Wünsche dir ein schönes Wochenende,
    glG vom monerl

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  4. Liebe Ella,
    die arme Gwenny! Sie tat mir beim Lesen des Beitrags so unendlich leid. Andererseits haben David und Sylvia sie auch nicht verdient, wenn sie so rücksichtslos mit ihr umgehen und für Gwenny öffnen sich nun ganz neue Türen, was ja auch immer schön ist 💕
    Liebe Grüße,
    Janika

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  5. Ich habe auch mit Gwenny gefühlt. Irgendwie hat jeder schon mal eine Beziehung beendet. Und es ist immer schwierig, wenn alles was einen verbunden hat weg ist und der Gegenüber eigentlich fremd. Aber ein Silberstreif am Horizont. Ein neues Abenteuer wartet.

    Schönes Wochenende.

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    1. Das stimmt, gerade wenn man schon etwas ähnliches durchlebt hat, kann man sich in solche Situationen sehr gut hineinfühlen. :-)

      Vielen Dank und einen schönen Start in die neue Woche.

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  6. Liebste Ella!

    Deine Geschichte hat mich sehr berührt. Gerade die Tatsache, dass eine achtjährige Beziehung so lieblos endet und von einer Seite mit solcher Gleichgültigkeit empfunden wird – das hast du richtig gut beschrieben. Auf jeden Fall ist Gwenny jetzt in England besser aufgehoben. Das ist dann wie ein kompletter Neuanfang in einem anderen Land, da ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr David oder Sylvia nochmal über den Weg laufen, immerhin sehr gering.

    Hab ein wundervolles Wochenende!
    Ida <3

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  7. Hey Ella,
    ein sehr trauriger Moment, den du beschreibst, aber ich mag diesen Hoffnungsschimmer am Ende. Irgendwie habe ich am Ende der Geschichte das Gefühl, dass Gwenny sich jetzt ein Leben aufbaut mit dem sie zufrieden ist.
    Greetz, Katharina.

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    1. Huhu Katharina,

      ich danke dir. :-) Hoffnungsstreifen am Horizont sind toll, sie geben einem das Gefühl, das nicht alles schlecht ist und in jeder Situation noch ein Stückchen Hoffnung zu finden ist.

      Liebste Grüße
      Ella <3

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